Ein »Jecke« aus Deutsch Krone – Teil 1
Teil ❶ ▶︎ Edwin Landau wuchs in einer alteingesessenen jüdischen Familie in Deutsch Krone auf, verließ seine Heimatstadt aber 1934, um den Verfolgungen der Nazizeit zu entkommen. 1940 verfasste er in Palästina einen Bericht über sein »Leben vor und nach Hitler«. Im ersten Teil dieser Arbeit, die in polnischer Sprache erstmals 2023 in Nummer 14 der »Studia i materiały do dziejów ziemi wałeckiej« erschien, wird seine Herkunft und seine Biografie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs behandelt. Der zweite Teil des Aufsatzes ist hier zu finden.
Im August 1939 initiierten drei Mitglieder des Lehrkörpers der Harvard-University – der Psychologe Gordon W. Allport, der Historiker Sidney B. Fay und der Soziologe Edward Y. Hartshorne – ein Preisausschreiben, um die »gesellschaftlichen und seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk«1D. Garz, S. Tiefel, F. Schütze: Beiträge deutscher Emigranten zum Preisausschreiben der Harvard University 1939. 2007, S. 179-188. Das Preisausschreiben ist dort auf Seite 181 abgedruckt. zu untersuchen. Mit einem vielfach verbreiteten Flugblatt wandten sich die Wissenschaftler »an alle, die Deutschland vor und nach Hitler gut kennen« und lobten ein Preisgeld von 1000 Dollar für die beste »unveröffentlichte Lebensbeschreibung« zum Thema »Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933« aus. Unter den 263 Einsendungen, die die Initiatoren bis zum festgesetzten Abgabedatum, dem 1. April 1940 erreichten, befand sich auch ein Beitrag von Edwin Landau mit dem Titel Mein Leben vor und nach Hitler. Auf der Titelseite dieser biographischen Skizze, die sich heute im Archiv des Ludwig Baeck-Institutes in Jerusalem2E. Landau: Mein Leben vor und nach Hitler (1940). Das 52-seitige Typoskript, das über das Center for Jewish History auch online zugänglich ist, enthält Korrekturen und Zusätze Landaus aus späterer Zeit. befindet, weist der Verfasser darauf hin, dass er aus Deutsch-Krone stammt – dem heutigen Wałcz.
In den vergangenen Jahren wurden einzelne Abschnitte aus Landaus Selbstbiographie teils mehrfach3Hier kann nur eine Auswahl der Veröffentlichungen genannt werden: T. Neumann: Jews and their non-Jewish Neighbors, Acquaintances, Friends. 2003; S. Bartmann: Flüchten oder Bleiben? 2006; M. Berger: Für Kaiser, Reich und Vaterland. 2015; D. Cesarani: Final Solution – The Fate of the Jews 1933-49. 2016; A. Barkai: Vom Boykott zur »Entjudung«. 2016; D. Garz: Von den Nazis vertrieben. 2021. – Michael Berger, der schon 2006 unter dem Titel »Eisernes Kreuz und Davidstern« über Landau schrieb, macht ihn in beiden Büchern irrtümlich zum »Leiter der Ortsgruppe des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten« in Deutsch Krone. Diese Position bekleidete jedoch Ernst Borchardt (B. Schlesinger: Führer jüd. Gemeindeverwaltung. 1932, S. 81.). zitiert, der Gesamttext blieb jedoch unveröffentlicht. Zudem fanden die regionalen Bezüge bei der Rezeption bislang nur wenig Beachtung, obwohl Landaus Arbeit eine wichtige Quelle zur – weitgehend ungeschriebenen – Geschichte der jüdischen Gemeinde von Deutsch Krone darstellt. Vielleicht rührt das Versäumnis daher, dass Landau in seinem Text kaum Daten nennt und die Namen aller erwähnten Personen auf ein Initial verkürzt. Auf Grund der überlieferten Aktenbestände lassen sich diese Fehlstellen aber häufig schließen.
Edwin Landau wurde am 4. Mai 1890 in Deutsch Krone geboren. Seine Vater war der aus Kempen (heute: Kępno) in Großpolen gebürtige Kaufmann Raphael Meyer Landau (1851-1923), der später den Vornamen Robert annahm; seine Mutter war Fanny geborene Apolant (1857-1929)4Wie aus den überlieferten Aufgebotsakten zu ersehen ist, heirateten Edwin Landaus Eltern im Dezember 1880 in Deutsch Krone. Acta specialia des Standesamts zu Deutsch-Krone zum Haupt-Heiraths-Register pro 1880. Archiwum Państwowe w Koszalinie Oddział w Szczecinku, Signatur 28/227/0/-/17, Blatt 273., die aus einer regional verwurzelten jüdischen Familie stammt. Die Familie Apolant führt ihren Stammbaum5Die Darstellung folgt: R. J. Apolant: Some facts about the Apolant family. 1991. zurück auf den Händler Samuel, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Deutsch Kroner Land lebte. Samuel hatte zwei Söhne, die beide 1812 preußische Staatsbürger6Königlich Preussische Regierung zu Marienwerder: Generalverzeichnis sämtlicher Juden 1812. wurden und den Familiennamen Apolant annahmen, was so viel wie »aus Polenland« bedeutet. Der eine der Söhne – Esra Samuel Apolant (1763-1845) – wirkte später als Rabbiner in Jastrow (heute: Jastrowie), der zweite Sohn Meier Samuel Apolant (geboren um 1760) lebte als Kaufmann in Deutsch Krone. Sein Sohn, der Gastwirt Lewin Apolant (1791-1858), der Miriam Perl (1793-1862) heiratete, war Edwin Landaus Urgroßvater.
Lewin Apolant wird in den Akten mehrfach erwähnt: Er gehörte 1828 dem Schulausschuss der jüdischen Gemeinde an7Einreichung der Uebersichten des jüdischen Schulwesens (1828-1849). Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 26/20/0/2.3/161, Blatt 12. und initiierte 1842 die Gründung einer selbstständigen jüdischen Schule8W—ll: Etwas über das jüdische Schulwesen im Regierungsbezirk Marienwerder. Der Orient, 21.10.1848, S. 343. in der Stadt. Ein Bericht des Magistrats aus dem Jahr 1843 benennt ihn als Rabbiner-Assessor der Synagogengemeinde9Der Bericht ist überliefert in: Die Juden und deren Verhältnisse (1835-1850). Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 26/20/0/2.3/162, Blatt 63-81.. Lewin Apolant hatte sechs Kinder, eines davon ist der Berliner Rabbiner Dr. Samuel Apolant (1823-1898), ein anderes ist Landaus Großvater, der Klempner Moses Apolant (1820-1895), der am 15. Dezember 1851 in Deutsch Krone Bertha Wreschner (1824-1903) aus Exin (jetzt: Kcynia) im Kreis Schubin heiratete10Amtsgericht Deutsch Krone: Geburten und Heiraten der Juden (1847-1874), Bild 267.. Auch Moses Apolant war ein wichtiges Mitglied der jüdischen Gemeinde seiner Vaterstadt: Im Januar 1855 wurde er in die erste Repräsentantenversammlung der Synagogengemeinde gewählt11Auführung des Gesetzes über die Verhältnisse der Juden vom 23 Juli 1847 (1847-1868). Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 26/20/0/2.3/166, Blatt 212., 1875 gehörte er der städtischen Schuldeputation an12Zeitungsnachrichten. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 13. April 1875, S. 253. und bis zu seinem Tod hatte er einen Sitz im Vorstand der Begräbnisbruderschaft Chewra Kadischa13Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. 1893, S. 5..
Moses Apolant begründete Anfang der 1850er Jahre in Deutsch Krone das Geschäft für Eisen- und Haushaltswaren mit angeschlossener Klempnerwerkstatt, das Robert Landau nach der Hochzeit übernahm14Am 18. Februar 1881 wurde Raphael Meyer Landau als Inhaber der Firma M. Apolant ins Handelsregister eingetragen. Siehe dazu: Bekanntmachungen. Amtsblatt Marienwerder, 2. März 1881, S. 164.. Das Wohn- und Geschäftshaus der Familie lag an der damaligen Königstraße – der heutigen Ulica Kilińszczaków – unmittelbar neben Brieses Hotel. Es war ein Eckgebäude zu Judenstraße hin, die heute Ulica Tȩczowa heißt – Regenbogenstraße. Mit Stolz weist Edwin Landau in seiner Selbstbiografie darauf hin, dass sein Elternhaus »sich bereits seit dem Jahr 1795 im Familienbesitz«15Landau, a. a. O., S. 2. befand. Leider hat es nach dem Krieg einem Warenhaus – dem Dom Handlowy Orion – weichen müssen.
Edwin Landau war das zweitjüngste von sechs Kindern aus der Ehe seiner Eltern; er hatte zwei Schwestern – Johanna (1881-1943) und Rosa (1885-1942) – und vier Brüder: Julius (1882-1934), Georg (geboren 1885), Louis (später Ludwig; 1888-1943) und Adolf (geboren 1902). Ein weiterer Bruder, Jakob Max Landau, starb einen Tag nach der Geburt am 18. März 188916Die Todesurkunde findet sich in Geburts-Listen zur Militair-Stammrolle des Kreises Deutsch Krone 1867-1889. Archiwum Państwowe w Koszalinie Oddział w Szczecinku, Signatur 28/227/0/-/80, Blatt 841..
In seiner biographischen Skizze berichtet Landau ausführlich über das Familienleben im Elternhaus. Während der Vater ein »fleißiger und tüchtiger Kaufmann«, aber ein »sehr strenger Erzieher« war, ließ die Mutter »ihre Liebe auf uns Kinder überströmen«17Landau, a. a. O., S. 3. Dort auch die weiteren Zitate. In religiöser Hinsicht führten die Eltern einen »streng rituellen Haushalt« und der Vater achtete darauf, dass die Söhne »am Schabbat und an den Feiertagen« in die Synagoge gingen und dort andächtig beteten. Gleichzeitig genossen kulturelle Werte im Haus der Landaus ein hohes Ansehen: Die musikalische Mutter spielte Klavier, schöngeistige und klassische Literatur war »im Hause reichlich vertreten«. Am Freitagabend wurden im Wohnzimmer Gedichte und Lieder vorgetragen statt oder Spiele gespielt. Die Eltern fühlten sich dem deutschen Kulturkreis zugehörig und legten Wert darauf, dass die Kinder ein fehlerfreies Deutsch sprachen. Deutsche Literatur und Musik standen in besonderem Ansehen.
Neben dem Geschäft engagierte sich der Vater in der Synagogengemeinde von Deutsch Krone. Robert Landau stand im Jahr 1900 der Repräsentantenversammlung vor18Etats- und Rechnungswesen der Synagogengemeinde. Band I (1883-1910). Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 26/20/0/2.3/169, Blatt 262/263. und verwaltete 1903 die Finanzen der gemeindenahen Gebrüder-Preuß-Stiftung19Statistisches Jahrbuch des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes. 1903, S. 8.. Die jüdische Gemeinde von Deutsch Krone – die auch die umliegenden Dörfer umfasste – zählte 1893 542 Mitglieder in 130 Familien20Statistisches Jahrbuch a. a. O., 1893.. In der Stadt selbst waren 1895 456 der insgesamt 7.17321Gemeindelexikon für die Provinz Westpreußen. 1898, S. 172-173. Bewohner Juden, was einem Anteil von 6,4 Prozent entspricht. Sowohl die absolute wie die relative Zahl der ansässigen Juden war allerdings seit zwei Jahrzehnten rückläufig. Die nachfolgende Tabelle gibt für das Jahrhundert zwischen 1837 und 1938 die Zahl der jüdischen Einwohner von Deutsch Krone im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung an:
Jahr | 1837 | 1849 | 1871 | 1885 | 1895 | 1905 | 1925 | 1933 | 1939 |
Einwohner | 3057 | 4180 | 6404 | 6652 | 7137 | 7516 | 10577 | 10762 | 14941 |
davon Juden | 526 | 542 | 647 | 514 | 456 | 391 | 240 | 232 | 57 |
Anteil in % | 17,2 | 13,0 | 10,1 | 7,7 | 6,4 | 5,2 | 2,3 | 2,2 | 0,4 |
Der Rückgang des jüdischen Bevölkerungsanteils hatte mannigfache wirtschaftliche und kulturelle Gründe; er betraf auch nicht nur Deutsch Krone, sondern alle Kleinstädte in den östlichen Provinzen des preußischen Staates. Gerade die gutausgebildeten jüngeren Juden verließen häufig die enge Atmosphäre ihrer Vaterstädte, um in aufstrebenden Großstädten wie Berlin, Stettin oder Danzig ein besseres Leben zu finden. Auf Deutsch Krone treffen dabei sicherlich die Sätze zu, die Bernhard Breslauer 1909 über die Provinz Posen schrieb:
»Wer die Universität besuchen wollte, wer die Wissenschaft leben wollten – und das waren viele Juden – mußte die Provinz verlassen. Wer sich der Technik widmen wollte, fand meistens keinen genügenden Boden in der Provinz. Und wer nun gar künstlerische Neigungen hatte, mußte für immer von seiner Heimat Abschied nehmen. Die Ausbildung der Mädchen aber lag überall im Argen.«
B. Breslauer: Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen. 1909, S. 9.
Hinzu kam ein unterschwelliger Antisemitismus, den es zwar überall gab, dem die Opfer in einer Kleinstadt aber nur schwer ausweichen konnten. Im Kreis Deutsch Krone hatte sich der Judenhass zweimal öffentlich manifestiert: Am 4. August 1881 kam es in Jastrow zu einem »Excess gegen die Juden«, bei dem »von einer zusammengerotteten Menschenmenge mehreren Juden Fenster eingeworfen«23Bürgermeister Zitzlaff in einem Brief an die Regierung in Marienwerder am 5. August 1881, zitiert nach Exzesse gegen die Juden. Band I (1881-1890). Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 26/20/0/2.3/167, Blatt 15. wurden. Der Aufruhr stand in Zusammenhang mit einem Mord in Neustettin (heute: Szczecinek), den die Antisemiten demagogisch ausnutzten. Ein Vortrag, den der Berliner »Radau-Antisemit« Dr. Ernst Henrici (1854-1915) am 28. Juni 1881 im Hackbarthschen Saale in Jastrowie gehalten hatte, galt den Behörden als Auslöser der Vorfälle, da Henrici bei der »Bevölkerung gegen die Juden eine große Erregtheit«24Ebenda. auslöste. Im Februar 1882 wurden 14 Teilnehmer an den Ausschreitungen vom Landgericht in Schneidemühl (heute: Piła) zu teilweise mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Die Gemeindevertreter von Jastrow wählten in einem Akt der Solidarität den jüdischen Geschäftsmann Adolph Salinger zum Stadtverordneten-Vorsteher25Über die Urteile und die Wahl informiert ein Zeitungsbericht in ebenda, Blatt 66..
Ein Mordfall in Konitz (heute: Chojnice), den die Antisemiten den Juden zuschrieben, führte im Frühjahr 1900 im Deutsch Kroner Land zu Übergriffen, die auch Edwin Landau als Kind miterlebte:
»Als […] in Konitz der Gymnasiast Ernst Winter ermordet wurde, und man diesen Mord als Ritualmord hinstellte, rief man uns nach ›hep-hep, Juden raus nach Palästina‹. Manchmal wurden wir auch verprügelt.«
E. Landau: Mein Leben vor und nach Hitler, S. 3.
Die erhaltenen Akten des Landratsamt spiegeln die Stimmung dieser Tage wieder. In Schloppe (heute: Człopa) wurden in der Nacht vom 28. auf den 29. April drei Fenster der Synagoge eingeschlagen26Excesse gegen die Juden, a. a. O., Blatt 70. und aus Jastrow berichtete Bürgermeister Herrmann am 1. Mai 1900 an den Landrat:
»Am Donnerstag den 26. v. M. bei Eintritt der Dunkelheit wurden auf der Straße einige Hepp-Hepp-Rufe hörbar. Die Täter waren vier halbwüchsige Burschen, die sofort verhaftet wurden. Nachdem dies geschehen, trat Ruhe ein […]«
Excesse gegen die Juden, a. a. O., Blatt 71.
Bereits am 31. Oktober 1893 hatte sich in Deutsch Krone ein »Deutsch-socialer antisemitischer Verein«27Ein detailierter Bericht der Polizeiverwaltung an Landrat Rotzoll vom 31. Oktober 1893 findet sich in Antisemitische Bewegungen im Kreise Deutsch Krone. Band I (1893-1903). Archiwum Państwowe w Koszalinie, Signatur 26/20/0/2.3/168, Blatt 49-61. Dort auch die Mitgliederliste und die folgenden Zitate. gebildet, dem sich 17 Bürger der Stadt – darunter Stellmachermeister Henke und Maschinenmeister Timm als Vorsitzende – anschlossen. Vorausgegangen waren zwei Versammlungen, die der Berliner Antisemit Hans von Mosch (1862-1945) und sein Hannoveraner Parteigenosse Dr. Schnutz am 21. und am 30. Oktober 1893 im Saal der Restauration Lenz abhielten. Die zweite Versammlung wurde nach dem Polizeibericht von etwa 250 Menschen – »fast ausschließlich vom Handwerker-, Ackerbürger- und Arbeiter-Stande« – besucht. Über der Eingangstür zum Saal war »ein Plakat mit der Inschrift ›Juden ist der Eintritt verboten‹ angebracht«. Weiter heißt es im Polizeibericht:
»Das Wort führten […] Schnutz und von Mosch[, die] hervorhoben, daß sie Alles, was sie erreichen wollten, nur durch Änderung der Gesetzgebung in legaler Weise erstrebten und daß ihr Kampf sich nicht gegen den einzelnen Juden richte, […] sondern daß sie gegen den fremden Stamm der Juden kämpften. […] Volk und Regierung hätten kein Geld mehr, alles flösse in die Judentaschen. […] Die Presse sei in in ihrer ungeheuren Mehrzahl in Judenhänden. Sie arbeite mit der Börse zusammen […] Das Vertrauen zu der Rechtsprechung gehe mehr und mehr verloren, weil das Judenthum in derselben überwuchere. […] An der jüdischen Religion bekämpfe seine Partei nur die Auswüchse. […] Der Talmud lehre, daß alle Güter der Welt den Juden gegeben seien. Demnach gäbe es kein christliches Eigenthum. Der Landmann plage und schinde sich vergeblich. […] Das Judenthum sei ein Geschwür am deutschen Staatskörper, das ausgequetscht werden müsse.«
Antisemitische Bewegungen im Kreise Deutsch Krone. Band I (1893-1903), Blatt 50.
Bei der Reichstagswahl 1898 konnte die Deutsch-Sociale Partei von Moschs im Wahlkreis Deutsch Krone/Jastrow 2.562 der insgesamt 10.323 abgegebenen Stimmen28Aktenstück Nr. 354 (Bericht der Wahlprüfungskommission). Reichstagsberichte, 1899, S. 2341. auf sich vereinigen. Bei der Reichstagswahl 1903 fanden die Antisemiten 2.370 Wähler29L. Curtius: Der politische Antisemitismus von 1907-1911. 1911, S. 5. und bei den Wahlen 1907 entfielen auf die Deutsche Reformpartei, die sich zwischenzeitlich als Sammelbecken der Antisemiten gegründet hatte, 2.705 Stimmen30Ebenda und M. Rademacher: Landkreis Deutsch Krone. In: verwaltungsgeschichte.de. – fast jeder vierte Wähler im Deutsch Kroner Land stimmte also judenfeindlich. Bei der Reichstagswahl 1912 trat keine antisemitische Partei mehr an, Edwin Landau berichtet jedoch, dass er um diese Zeit in Deutsch Krone sein »erstes bewusstes Zusammentreffen mit dem Antisemitismus«31Landau a. a. O., S. 6. hatte, als die örtliche Gliederung des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes »weder Juden noch weibliche Angestellte« als Mitglieder dulden wollte.
Landau besuchte in Deutsch Krone die kommunale jüdische Gemeindeschule, an deren Gründung sein Großvater im Jahr 1842 beteiligt gewesen war. Die Schule war zweiklassig und wurde nach Landaus Erinnerung von etwa »80 Knaben und Mädchen«32Ebenda, S. 2. Dort sind auch die weiteren Zitate zu finden. besucht. Der größte Teil des Unterrichts entsprach dem staatlichen Lehrplan, nur »die Religionsstunde sowie zwei Stunden am Nachmittag galten der Erziehung zum jüdischen Menschen«. Gerade den Unterricht im Hebräischen und in der jüdischen Geschichte fand Landau jedoch von »trockener und nebensächlicher Art«. Mehr Begeisterung empfand er für die deutsche Literatur; er mochte Heldensagen und lernte mit Leichtigkeit Gedichte auswendig.
Der »alte Hauptlehrer«, den Landau erwähnt, war Gustav Brann, der 48 Jahre lang, von 1862 bis zu seinem Tod am 17. Januar 1910, in Deutsch Krone unterrichtete. Brann hatte seine Ausbildung am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau33Sein Namen findet sich in der Liste aller 700 Seminaristen in: Das Jüdisch-theologische Seminar Breslau (1854-1938), Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer, 2005, S. 12. Sie dazu auch Branns Ausführung zur Lehrerausbildung in: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 23. September 1862, S. 253. erworben und genoss in der Stadt hohes Ansehen. An seiner Trauerfeier beteiligte sich nicht nur die jüdische Gemeinde, sondern auch der Magistrat und die städtischen Behörden34Deutsch-Krone. In: Der Gemeindebote, 18. Februar 1910, S. 3. – Gustav Brann ist übrigens der Vater des Begründers der Phlebologie, Nathan Brann (1870-1949)..
In besonderer Erinnerung blieb Landau der Festzug, der jährlich am Sedanstag – dem 2. September – vom Buchwald ausgehend durch Deutsch Krone führte und an dem sich auch die drei konfessionellen Gemeindeschulen beteiligten. Dabei wurde die Reihenfolge im Zug gewechselt, so dass in jedem Jahr »sowohl die evangelische, katholische und jüdische Schule gleich hinter der Musikkapelle marschierte«35Landau, a. a. O., S. 3. Dort sind auch die nachfolgenden Zitate zu finden.. Die Stadt war zu diesem Anlass mit deutschen und preußischen Fahnen geschmückt, und als Landau einmal die Klassenfahne tragen durfte, kam er sich so stolz vor »wie der Cornet Christoph Rilke«.
Nach dem Besuch der Gemeindeschule besuchte Landau einige Jahre das Gymnasium, war aber nur ein mittelmäßiger Schüler. Vor allem Latein und Griechisch »konnte er nicht gut leiden«, was er rückschauend einem ungerechten Lehrer zuschreibt, »der auch von den protestantischen Mitschülern gehasst wurde«.
Im November 1894 hatte der Vater mit der Firma M. Apolant Konkurs36Konkursverfahren [36986]. Berliner Börsen-Zeitung (Beilage), 12. November 1894, S. [15]. anmelden müssen; das verbliebene Geschäft wurde von der Großmutter unter dem Namen M. Apolant’s Witwe weitergeführt. Nach dem Tod von Bertha Apolant im März 1903 übernahm die Mutter die Firma37Anzeiger [9131]. Berliner Börsen-Zeitung, 8. April 1903, S. 16., da Robert Landau weiterhin Ansprüchen der Gläubiger ausgesetzt war.
Da es den Eltern »wirtschaftlich nicht so gut ging«38Landau a. a. O., S. 3. Dort sind auch die weiteren Zitate zu finden., verliess Edwin Landau »nach der Einsegnung« das Gymnasium, »um irgendwo in die Lehre zu gehen«. Dabei zerschlug sich rasch die Hoffnung auf eine Ausbildung zum Buchhändler; weil sich auch sonst keine Lehrstelle fand, wurde er »in das väterliche Eisengeschäft, das verbunden mit Klempnerei und Installation war, gesteckt«.
»Mein Vater war sehr streng zu mir, und jeden Fehler, den ich machte, hatte ich zu büßen. Ich lernte aber viel und von meinem Vater besonders Pünktlichkeit, Fleiß und Ehrlichkeit«.
Landau, a. a. O., S. 4.
Nach anderthalb Jahren im Geschäft des Vaters ging Landau nach Briesen (heute: Wąbrzeźno), wo er Polnisch lernte und die Ausbildung in einem befreundeten Unternehmen beendete. Briesen lag damals nahe der preußischen-russischen Grenze; gut die Hälfte der 7.526 Einwohner der Stadt waren Polen. Die kleine jüdische Gemeinde der Stadt war nach Landaus Aussage »stark deutschnational« orientiert, um von den »vielen auf dem Lande wohnenden deutschen Ansiedlern, mit denen sie großen Handel trieben, als vollwertig angesehen zu werden«39Ebenda, S. 5. Dort ist auch das weitere Zitat zu finden..
Von Briesen aus ging Landau nach Schroda (heute: Środa Wielkopolska), wo er eine Stellung als Kaufmannsgehilfe fand. Er bemerkte, dass es in der Kleinstadt »eine Spannung zwischen Polen und Juden« gab, aber zwischen Deutschen und Polen »Feindschaft und Hass« herrschte. Landau verbrachte die freien Sonntage oft im nahen Posen, wo Leopold Landau (1847-1913) – ein Bruder des Vaters – mit seiner Familie lebte. Posen war die erste Großstadt, die Landau kennen lernte. Er besuchte das Theater und war beeindruckt vom königlichen Schloss, dem alten Rathaus und der Raczyński-Bibliothek40Ebenda, S. 6..
Vermutlich Anfang 190741Die Abfolge der Ereignisse in Landaus Biografie ist an dieser Stelle nicht schlüssig, denn er datiert den Tod von Gustav Brann (1910) und die Auflösung der jüdischen Schule (1912) vor seinen eigenen 18. Geburtstag im Jahr 1908. Vermutlich hat er die erste Rückkehr nach Deutsch Krone mit einer späteren verwechselt. kehrte Landau zurück nach Deutsch Krone, um dem kränkelnden Vater im Geschäft zu unterstützen. Darüber hinaus engagierte er sich im Gesangsverein der Synagoge und in mehreren nichtjüdischen Vereinen. Im Vergleich mit Briesen und Schroda schien ihm der »Zusammenhalt und die Kulturbestrebungen« in seiner Vaterstadt »auf einer höheren Stufe«42Ebenda, S. 6. zu stehen. Eine wichtige Freundschaft schloss er mit dem Buchhändler Otto Brümmer, der von Juli 1894 bis August 1914 eine Buchhandlung auf der Königstraße 12243Brümmer Otto. Adressbuch d. Buchhandels, 1914, S. 73 und Geschäftliche Einrichtungen und Veränderungen. In: Börsenblatt, 31. August 1914, S. 6959. führte. Brümmer vermittelte dem jungen Kaufmann den Kontakt zur literarischen Moderne, und Landau fand in den Büchern von Kellermann, Liliencron und Dehmel »einen Gleichklang für [sein] Innenleben«44Landau, a. a. O., S. 6..
Die literarischen und künstlerischen Interessen des Sohnes fanden allerdings nicht die Billigung des Vaters; es kam zu Konflikten, die schließlich dazu führten, dass Landau als 18-jähriger nach Meiningen in Thüringen zog, wo er Anstellung in einem kleinen Betrieb fand, aber hauptsächlich seine musischen Neigungen lebte. Er spielte Mandoline und Schach, besuchte häufig das Theater und hatte Kontakt zum christlichen Reformtheologen Ludwig von Gerdtell (1872-1954). Über diesen Lebenswandel beunruhigt, schaltete sich Edwin Landaus ältester Bruder Julius ein, der als selbständiger Kaufmann in Berlin lebte. Julius Landau bewegte den Bruder zum Umzug in die Hauptstadt, wo er ihm eine Stellung in einer Fabrik für Badeeinrichtungen und sanitäre Anlagen vermittelte. Über die Ankunft in Berlin berichtet Landau:
»Als ich am 30. September am Anhalter Bahnhof in Berlin bei strömendem Regen von meinem Bruder in Empfang genommen wurde, war er erstaunt, mich noch im Strohhut zu sehen und ohne Regenschirm, dagegen mit einigen Koffern voll Bücher und Zeitschriften[.]«
Landau, a. a. O., S. 7.
Von etwa 1910 bis 1913 lebte und arbeitete Edwin Landau in Berlin. Er fand in der Metropole rasch Anschluss, verliebte sich zum erste Mal und empfing vielfältige künstlerische und soziale Anregungen. Die entsprechenden Seiten seiner Autobiografie sind gespickt mit den Namen von Komponisten, Dirigenten, Regisseuren, Schauspielern und Sängern; aber Landau interessierte sich auch für Museen und Galerien, begeisterte sich für die Fliegerei und schloss eine erste Bekanntschaft dem Zionismus, dem er allerdings nur flüchtige Aufmerksamkeit widmete. Erneut war es eine Erkrankung des Vaters, die ihn zurück nach Deutsch Krone rief.
Obwohl Landau Berlin »sehr ungern verließ«45Ebenda, S. 11. Dort sind auch die weiteren Zitate zu finden., fand er sich in der Vaterstadt schnell zurecht. Er war »reifer und männlicher« geworden, wurde von den Kunden geschätzt und auch im Elternhaus sah man in ihm nicht mehr »den Lehrling von einst, sondern den Mitarbeiter«. Erneut nahm Landau eine rege Tätigkeit auch in überkonfessionellen Vereinen auf, pflegte den Gesang, spielte Schach und führte auf gemeinschaftlichen Bällen auch »christliche Mädchen und Frauen zum Tanze«46Ebenda, S. 12. Dort sind auch die weiteren Zitate zu finden.. – »Das war das kaiserliche Deutschtum der Vorkriegszeit. Wer hätte ahnen können, dass ein großer Teil dieser Menschen mit hochanständiger Gesinnung, diese lieben Nachbarn und Kollegen sich so wandeln würden?«, fragt er an dieser Stelle seiner Biographie.
[Zuerst veröffentlicht in polnischer Sprache in Nummer 14 der »Studia i materiały do dziejów ziemi wałeckiej«, Wałcz 2023, Seite 84-116. Dort findet sich auch ein umfassendes Literaturverzeichnis.]