Im Jahr 1772 annektierte der preußische König Friedrich Ⅱ. mit dem Netzedistrikt und Teilen Pomerellens auch das Deutsch Kroner Land. Zwölf Jahre später bereiste Karl Heinrich Oesterlein (1758-1816) die neu erworbenen Gebiete und berichtete darüber in empfindsamen Briefen an seinen Studienfreund Friedrich Gustav von Schlicht (1758-1832), der sich in Halle auf die juristische Laufbahn vorbereitete. Wie Schlicht trat auch Oesterlein später in den preußischen Staatsdienst ein und wurde zunächst Gerichtssekretär in Riga, dann Kanzleidirektor in seiner Vaterstadt Berlin.
Oesterleins Reisebericht erschien 1784 unter dem Titel »Bemerkungen auf einer Reise von Berlin nach Bromberg in Westpreussen in Briefen an G. F. Schlicht« in der Buchhandlung von Georg Jakob Decker in Berlin. Das Buch wurde von den Zeitgenossen positiv aufgenommen: »Wegen der Bemerkungen aus einer so wenig beschriebenen Gegend und der Nachrichten vom Netz- und Wartebruch interessant«, urteilte der Geograf und Theologe Anton Friedrich Büsching (1724-1793) in seinen »Wöchentlichen Nachrichten von neuen Landkarten«1Zitiert nach G. H. Stuck: Verzeichnis von aeltern und neuern Land- und Reisebeschreibungen, Zweyter Theil, Halle 1787, S. 83.. Dieses Urteil hat auch heute noch Gültigkeit, denn Berichte über das Deutsch Kroner Land blieben rar und eine vergleichbare Reisedarstellung ist mir nicht bekannt.
Oesterleins Reise führte von Berlin zunächst nach Schwedt, dann über Stettin, Stargard und Reetz nach Kallies, von dort über Märkisch Friedland und Deutsch Krone nach Selgenau bei Schneidemühl, wo er einen befreundeten Gutsbesitzer besuchte. Von Selgenau reiste er weiter über Lobsens und Nakel nach dem Zielort Bromberg. Märkisch Friedland wird von Oesterlein noch schlicht als „Friedland“ bezeichnet, Deutsch Krone heißt „Preussisch Krone“. Zumal im Kontrast zu Schwedt und Stettin – aber auch Reetz und Kallies – fällt sein Fazit über das neu erworbene Land zwiespältig aus: Während die Landschaft von ihm »schön und mannigfaltig« empfunden wird, erscheinen die Städte schmutzig und schlecht bebaut und ihre Bewohner sind überwiegend Juden oder Polen. Natürlich spielen da viele Vorurteile eine Rolle, wie sie sich häufig in der preußischen Beamtenschaft bis hin zum König Friedrich Ⅱ. fanden. Der kam zwei Jahre später bekanntlich zu einem ähnlichen Urteil, als er über das annektierte Gebiet an seinen Bruder schrieb: »Es ist wahr, daß dieses Stück mit viel Arbeit verursacht, denn ich glaube Canada ebenso wohl eingerichtet, wie dieses Pomerellen. Keine Ordnung, keine Anordnung.«2zitiert nach C. Meyer: Friedrich der Grosse und der Netzedistrikt, Posen 1883, S. 12-13.. Aber lassen wir Oesterlein selber sprechen. —
Über den Ort Kallies, »einer zwar kleinen aber durchaus massiv neu erbauten Stadt«3K. H. Oesterlein: Bemerkungen auf einer Reise von Berlin nach Bromberg in Westpreussen in Briefen an G. F. Schlicht, Berlin 1784, S. 43., berichtet er:
»Unter den 1100 Einwohnern ist die Zahl der Tuchmacher sehr beträchtlich, da man jährlich eine Menge Tuch nach Polen ausführt. — Ein grosser Theil der Bürger treibt wie die Reezer, Akkerbau und Viehzucht. [… 44 –D]ie Einwohner denken noch oft mit Grauen des schrecklichen Tages, an welchem vor eilf Jahren, die Stadt ein Raub der wüthenden Flamme ward. […] Je elender der Zustand der Unglücklichen war, je mehr Hülfe sie bedurften, je schneller eilte auch unser grosse König den Nothleidenden zu Hülfe, gab zum Wiederaufbau sogleich achtzigtausend Thaler, und übertrug anfangs die Sorge dafür dem Geheimenrath von Brenkenhof.«
Oesterlein: Bemerkungen …, a. a. O., S. 43 u. 44.
»Vor der Akquisition von Westpreussen«, so fährt Oesterlein fort, war Kallies «die Grenzstadt, denn Friedland der nächste Ort, wohin wir nun kommen, gehöret schon zu Westpreussen.«4Ebenda. Er fährt fort:
»Die Gegend hinter Callies, nach diesem Distrikt zu, ist nicht immer abwechselnd schön, aber doch fast durchgehends fruchtbar genug, eine weit grössere Anzahl Menschen zu nähren, als man wirklich dort antrifft. Ich gesteh sehr gern, daß [47] mir Friedland nicht eben die beste Meynung von Westpreussens Städten beybrachte. Der Ort ist durchaus so polnisch, verfallen, und schmuzzig, wie die herumliegende Gegend schön und mannigfaltig. — Der Markt wimmelte bey unsrer Ankunft von zerlumpten Juden, die zum Theil mit Tuch und andern Ellenwaren nach Polen handeln, zum Theil betteln, und — stehlen. Meist zerrissne Lotterbuben, die Schrekken einjagen! — Der Mangel an Lebensmitteln kann ohnmöglich in Arabiens Wüste grösser seyn als dort. — Vermuthlich weil man sich nicht einbilden konnte, daß wirs besser verlangen würden, als der Edelmann des nahen Schlosses, bereitete man sogleich ohne weitere Anfrage todte Fische für uns, die aber ohnerachtet alles Zuredens, zwar bezahlt, aber nicht gegessen wurden. — Denken Sie sich alles dies recht lebhaft, und ich weiß, Sie bedauern uns. — Von schmuzzigem Gesindel umringt, mußten wir aus Mangel an Pferden zu unserm größten Kummer beynah einen halben Tag dort bleiben, und den Wagen bewachen, so gern wir auch unsern Hunger verschlafen hätten! — Gegen Abend reisten wir erst ab, und kamen später nach Preussisch Kron als wir wünschten, so ungestüm auch einige sehrhart herzige Polnische Bauernjungen auf ihre Pferde losprügelten. — [48]«
»Der Boden ist dort vortrefflich, so wie die ganze Gegend mehr anmuthig als kahl und eben. — Schöne Dörfer suchen Sie freylich bis jezt hieum noch vergeben, aber auch diese wird man künftig bey so anhaltendem Eifer zur Verbesserung des Landes gewiß finden. Preussisch Kron ist schlecht gebaut, schmuzzig und liegt noch halb verwüstet. — Der Akkerbau ist die einzige Nahrungsquelle der Einwohner, wovon die meisten katolisch sind, und ihren Pater haben. Die Lutheraner besucht von Zeit zu Zeit ein evangelischer Prediger eines nahen adelichen Guts. Die Häuser sind dicht in einander gebaut, und mit Stroh gedekt, daher wegen der grossen Sorglosigkeit der Einwohner öftre Feuersbrünste ganz unvermeidlich sind. — Bey einem gänzlichen Mißwachs litt die Stadt vor mehrern Jahren die bitterste Hungersnoth. Viele ganz Arme, die ihr Leben nur kümmerlich erhalten konnten, stillten ihren Hunger mit Brodt, aus Kaff5Kaff ist ein alter Begriff für Getreidespreu. gebakken, woran sehr viele starben. Dieser Elenden nahm sich unser grosse und gute König mit weiser Vaterhuld an, indem er sogleich über tausend Thaler zum Getreideeinkauf in einem Jahre austheilen ließ. —«
»Unser Wirth, ein teutscher Apotheker, suchte uns so gut zu unterhalten, wie möglich, und da endlich die Quelle seiner Beredsamkeit zu versiegen [49] drohte, nahm er seine Zuflucht zur nahen Bibliothek, die freylich überaus mager zu seyn schien. Bibel, Gesangbuch, alte Kalender, und einige Traumbücher waren alles. […]«
Oesterlein: Bemerkungen …, a. a. O., S. 46-49.
Interssant ist auch Oesterlein Darstellung von Selgenau, das bei ihm Zellgniewo (heute: Zelgniewo) heißt:
»Zellgniewo, eins der größten und schönsten Dörfer der Gegend, hat eine ganz beträchtliche Anzahl wohlhabender Bauern, weil diese ihren guten Akker vorzüglich bearbeiten. Die meisten Einwohner sind katolisch, die sich überaus glüklich schäzzen, wenn ihnen die heilige Agatha für Feuersbrunst, Rochus für Seuche und Pestilenz, Markus gegen alle Gefährlichkeiten, Wendelinus, Vieh und Hirten, und endlich der heilige Jodokus besonders in Gnaden ihr Getreide auf dem Felde schüzt. — Der Boden ist in diesen Gegenden ganz vortrefflich, und müßte bey anhaltendem Fleiß immer ergiebiger werden, wenn erst mehr Menschen hier wohnten, und mehrere in diesem Distrikt Güter anlegten. Bis jezt ist hierzu wenig Anschein da. Feylich gehört zu solchen Anlagen ungemein viel, zumal da es ausser dem guten Boden und Holz, nicht nur an den nöthigsten Baumaterialien fehlt, sondern bis jezt noch an Menschen, die das Land überall bauen können. Mit der Preussischen Regierung in diesen Gegenden unzufrieden, zieht sich der Polnische Adel unvermerkt tiefer nach Polen. — [51] In den dikken Waldungen dieses Distrikts, fehlts so wenig an Wölfen, als genäschigen Bären, die den Honig aufsuchen. —«
Oesterlein: Bemerkungen …, a. a. O., S. 50-51.